BERLIN – Die DDR-Staatssicherheit hatte überall „informelle Mitarbeiter“ (IM), auch unter den Ärzten. Diese bespitzelten Kollegen und Freunde. Sie berichteten zudem über Patienten und verstießen gegen ihre Schweigepflicht. Es ist ein dunkles Kapitel der ostdeutschen Ärzteschaft – und es interessiert kaum jemanden. Den Eindruck erzeugte zumindest eine Veranstaltung, zu der die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes vergangene Woche in Berlin eingeladen hatte. Zwar war der Saal voll, doch es waren vor allem Menschen gekommen, die sich von DDR-Ärzten verraten fühlten und bis heute eine Klärung der Sachlage vermissen. Schätzungen besagen, dass in der DDR 2 bis 5 % der Ärzte als IM arbeiteten. Damit gab es in diesem Sektor mehr Spitzel als in anderen Bereichen. Der Grund: Mediziner, die einer sozialistischen Ärzteschaft kritisch gegenüberstanden, verließen das Land zunehmend in Richtung Westen. Das wurde als staatsfeindlich angesehen, denn das Gesundheitswesen galt als ein Aushängeschild der DDR-Politik. Ziel war also, frühzeitig über geplante Aktivitäten „feindlicher Elemente“ Bescheid zu wissen, um gegensteuern zu können. Wahl zwischen Armee- oder Spitzeldienst Sein Hang zur Geselligkeit und sein umgängliches Wesen machten z.B. einen Chirurgen aus Aue für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) interessant. Ein Bericht seines Führungsoffiziers zeigt beispielhaft die Arbeit des Oberarztes: Als ein wissenschaftlicher Mitarbeiter der Humboldt-Universität wegen staatskritischer Äußerungen als Gastdozent an einer Ärzteakademie zum Rapport in die Berliner Parteizentrale zitiert worden war, nahm IM „Riedel“ an der Aussprache teil und schlussfolgerte: „So können nur Feinde unserer Partei und der Arbeiter-und-Bauern-Macht auftreten.“ Über die Konsequenzen für den „Delinquenten“ ist nichts bekannt. Auch IM „Klaus“ arbeitete für die Stasi. „Aus politischer Überzeugung“, sagt er, wenngleich in seinen Akten steht, dass er im Gegenzug den Wehrdienst erlassen bekam und somit seinen Weg zum Oberarzt direkt weitergehen konnte. Klaus wurde mit 39 Jahren geworben und war bis 1989 dabei. „Da ich voll hinter der DDR stand, war das kein Riesenproblem für mich“, sagte er der Historikerin Dr. Francesca Weil. IM aus Überzeugung Die Mitarbeiterin des Instituts für Totalitarismusforschung der TU Dresden hat im Auftrag des „Deutschen Ärzteblatts“ 490 Akten von IM-Ärzten gesichtet. 93 Ärzte bat sie um ein Gespräch, 21 stimmten zu. Von diesen arbeiteten nach der Wende elf in eigener Praxis, einer besitzt eine große Privatklinik, einer war im öffentlichen Dienst tätig, sechs zeitweise arbeitslos. Angst, Schuld, Scham, das empfand ein Drittel der Ärzte angesichts ihres Handelns. Zwei Drittel empfanden keine Schuld, da sie "niemandem geschadet" haben. „Carola“, die aus Angst um den Verlust des Studienplatzes IM geworden war, gibt sogar dem Opfer eine Mitschuld. Sie erklärte, die Stasi sei nur auf sie aufmerksam geworden, weil die Freundin nach Westberlin geflüchtet sei. Die Freundin wurde übrigens später auf Grund von Briefen zwischen beiden Frauen während einer DDR-Durchreise verhaftet. Wie die Auswertung der 490 Akten zeigt, erfolgte in 72 % der Fälle ein Einsatz aus politischer Überzeugung – „für Frieden und Sozialismus“. Weitere Motive waren eine bessere berufliche Position, finanzielle oder private Vorteile. Auch eine angeratene Wiedergutmachung, z.B. wegen staatsfeindlicher Hetze oder illegaler Schwangerschaftsabbrüche, war ein Grund für die Zusammenarbeit mit dem MfS. Auch der Faktor „Abenteuerlust“ spielte eine Rolle. Schwerpunktmäßig wurde über Kollegen aus dem Arbeitsumfeld berichtet sowie über in- und ausländische Mediziner und Pharmavertreter auf Kongressen oder der Leipziger Messe. Ausgeplaudert wurde über die „Zielpersonen“ alles, was wichtig erschien, von Karriereambitionen bis zu Eheproblemen. Ein Assistenzarzt berichtete über seinen Chef: „Auf fachlichem Gebiet ist er nicht der Beste, in operativer Hinsicht schon gar nicht.“ Weitere Informationen betrafen Patienten. Dazu Dr. Weil: „IM informierten das MfS über Diagnosen, Therapien, soziale und persönliche Probleme sowie über politische Meinungen und Haltungen. In 24 % der Fälle wurde die Schweigepflicht gebrochen.“ Gelegentlich seien ganze (Psychiatrie-)Gutachten weitergereicht worden. Quiz: Wer war bei uns ein Stasi-Spitzel? Mit Beginn der 70er-Jahre wurde peu à peu über das DDR-Gesundheitswesen ein flächendeckendes Informantennetz gesponnen. Nahezu in jeder Einrichtung gab es mindestens einen Zuträger, nicht selten war es ein Arzt. Die Spekulationen, wer denn nun derjenige war, gingen nicht immer in die richtige Richtung. Man habe fälschlicherweise überzeugte Kommunisten für IM gehalten und „guten Freunden“ vorbehaltlos vertraut, berichten Doris und Dr. Erhard Scholz. Die Krankenschwester und der Chirurg haben vor einigen Jahren die Arbeitsweise der Staatssicherheit im Raum Frankfurt/Oder durchleuchtet. Sie kritisieren die Aufarbeitung der Vergangenheit als absolut unzureichend. Laut Dr. Scholz tauchen noch heute ehemalige IM in der Öffentlichkeit auf. So sei IM „Springer“ nach der Wende Direktor eines großen Krankenhauses geworden und habe dort sogar die IM-Überprüfungen geleitet. Und bei den Kassenärzten zöge noch immer IM „Stadtrand“ die Fäden. Auf MT-Nachfrage teilte die Kassenärztliche Vereinigung mit, dass der betreffende Arzt seit seiner Stasi-Überprüfung nicht mehr im Vorstand, wohl aber noch in der Vertreterversammlung tätig ist. kol Medical Tribune 41. Jahrgang · Nr. 26 · 30. Juni 2006
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