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Leichenschau ergab "natürlichen Tod" - trotz Steckschuss
Wie viele Morde bleiben unentdeckt?

BERLIN - "Viele Ärzte sind mit der Leichenschau überfordert", so die Erfahrung von Professor Dr. Gunther Geserick, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin der Humboldt-Universität zu Berlin. Keine Erfahrung mit Toten, Hemmungen im Trauerhaus, Oberflächlichkeit, aber auch für jedes Bundesland unterschiedliche Regelungen seien schuld an übersehenen Tötungsdelikten, Suiziden, Kunstfehlern und sonstigen nicht natürlichen Todesursachen.

1999 starben in Deutschland 846 330 Menschen. 2851-mal, so die Statistik des Bundeskriminalamtes, wurde das vorzeitige Lebensende durch Mord oder Totschlag herbeigeführt. In 94,5 % der Fälle konnte der Täter ermittelt werden. Es scheint so, als hätten Mörder in Deutschland kaum eine Chance, unentdeckt zu bleiben. Doch dem ist nicht so. Mörder haben sogar recht gute Karten.
In der 1997 von der Gesellschaft für Rechtsmedizin veröffentlichten Studie "Fehlleistungen bei der Leichenschau", der Angaben von 38 rechtsmedizinischen Instituten zu Grunde lagen, kamen die Autoren per Hochrechnung zu dem Schluss, dass jährlich in Deutschland etwa 18 000 nicht natürliche Todesfälle bei der ersten Leichenschau übersehen werden. Beim Vergleich der Obduktionsergebnisse bei 13 000 Verstorbenen mit den dazugehörigen Leichenschauscheinen hatte sich herausgestellt, dass 2138-mal keine Übereinstimmung bestand.

Totschlag natürlich gefärbt

Das ist sicherlich nicht dramatisch, wenn ein natürlicher Tod als "ungeklärt" oder "nicht natürlich" eingestuft wird. Allerdings wurde bei der Studie auch registriert, dass 92-mal nicht natürliche Tode als natürliche deklariert waren. Und das, obwohl bei 49 Personen ein Unfalltod vorlag, 19 durch medizinische Maßnahmen verstarben, neun selbst Hand angelegt hatten, fünfmal eine Überdosis Drogen im Spiel war, zehnmal Mord oder Totschlag die Ursache für das Ableben waren.

In ihrem kürzlich erschienenen Buch "Todesursache: Natürlich - warum die meisten Morde unentdeckt bleiben" haben die Journalisten Fred Sellin und Klaus Weber einige der damals"übersehenen Morde" beschrieben. So wurde in Sachsen ein Kind von seinen Eltern mit einem Kissen erstickt, offiziell vermerkt wurde jedoch ein natürlicher Tod. In Frankfurt am Main war ein Mann ohne Bewusstsein in eine Klinik eingeliefert worden. Er verstarb an "Herzstillstand, Kreislaufversagen, Gehirnblutung", die wirkliche Ursache war eine Schlägerei zwei Wochen zuvor. In Thüringen wurde bei einem 34-jährigen Dialysepatient Tod"durch Nierenversagen" dokumentiert, obwohl dieser zuvor von seinem Bruder einen heftigen Faustschlag ins Gesicht versetzt bekommen hatte. Und selbst von Laien nicht zu übersehene Todesursachen, wie der Steckschuss in die Brust, der nahe Kiel einen 28-Jährigen dahingerafft hatte, wurden als natürliche Tode bescheinigt.

Prof. Geserick weiß, dass die Praxis heute nicht anders aussieht. Fehler bei der Leichenschau sind an der Tagesordnung. Drossel- und Würgemale werden ebenso übersehen wie Strommarken und Schusswunden. Kein Wunder, so Prof. Geserick, ist doch jeder Arzt verpflichtet, eine Leichenschau durchzuführen - "egal, ob er Internist, Allgemeinmediziner, Augenarzt oder Psychiater ist, ob er Erfahrung hat oder nicht". Das erste Defizit werde bereits durch das Studium gelegt. Gerade einmal vier Stunden Leichenschau sehe der Lehrplan für die zukünftigen Mediziner an der Charité vor, an einigen Universitäten seien es sogar noch weniger, so der Rechtsmedizin und Ärztliche Rechtskunde lehrende Professor. Wer einen Totenschein ausstellen muss, hat den Verstorbenen zu entkleiden, ihn bei gutem Licht rundherum zu beschauen, und er muss die Körperöffnungen inspizieren. Hinzu kommen Befragungen von Angehörigen bzw. sonstigen Anwesenden. Gegebenenfalls ist auch der bis dato behandelnde Arzt um Auskunft zu bitten. Rein theoretisch ist also alles klar.

Doch in der Praxis stoßen die herbeigerufenen Ärzte oftmals auf eine Mauer des Widerstandes. So weigern sich Angehörige, ihren geliebten Menschen entkleiden zu lassen, strenggläubige Eltern wollen eventuell den Selbstmord des Sohnes nicht publik machen, "Freunde" unter Drogeneinfluss wissen plötzlich nicht mehr, wie der Tote geheißen hat, Unterlagen über vorangegangene Behandlungen und eingenommene Medikamente fehlen. Der Arzt muss sich nicht nur behutsam gegen Gefühle von Trauernden durchsetzen, so Prof. Geserick, "er wird auch zum Ermittler gemacht". Und dies eventuell sogar gegen Kollegen. Denn "Ärzte, Zahnärzte und Heilpraktiker, die den Verstorbenen vor seinem Tod behandelt haben, sind verpflichtet, ... Auskunft zu geben" (Berliner Bestattungsgesetz).

Wahrheit ohne Schuldbekenntnis

"Im Fall eines Behandlungsfehlers kann dies zum Problem werden, denn der Arzt kommt in eine Pflichtenkollision. Einerseits muss er dem Leichen beschauenden Kollegen gegenüber Auskunft geben, andererseits muss sich niemand selbst bezichtigen. Haftpflichtversicherungen verbieten sogar das Schuldbekenntnis", erklärt Prof. Geserick. Dies sei ein ungelöstes Problem. Führende Rechtsmediziner halten deshalb den in einzelnen Bundesländern möglichen Vermerk "ungeklärte oder ungewisse Todesursache" auf dem Leichenschauschein für sehr gut. Denn dieser ermögliche dem behandelnden Arzt, die Wahrheit zu sagen, ohne einen Fehler einräumen zu müssen. Ob wirklich ein unnatürlicher Tod vorliegt - eventuell wegen eines Behandlungsfehlers -, sei hier nämlich noch nicht klar festgelegt. Jedes Bundesland hat sein eigenes Bestattungsgesetz, in dem mehr oder weniger deutlich geschrieben steht, was zu tun ist. Zwar hat 1993 die Gesundheitsministerkonferenz eine einheitliche Vorschrift für Deutschland gefordert. Diese gibt es allerdings bis heute nicht.

Immer weniger Obduktionen

Manche geschickt inszenierten Morde (Insulinüberdosis, tödliche Medikamente) werden weiterhin unentdeckt bleiben, weil es außer bei der vorgeschriebenen zweiten Leichenschau vor einer Feuerbestattung (in Berlin durch einen Arzt des Landesinstituts für gerichtliche und soziale Medizin) keinen weiteren Kontrollmechanismus gibt. Hinzu kommt, dass die Zahl der Obduktionen in Deutschland weiter zurückgeht. Nach Angaben des Berufsverbandes deutscher Pathologen werden bundesweit weniger als 5 % der Verstorbenen seziert, in den Kliniken sind es 10 %.

MTD, Ausgabe 17 / 2001 S.27, Cornelia Kolbeck

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